Über die Vorbereitungen und den Ablauf der sogenannten „S“-Transporte (S = Sonderbehandlung), gibt es von Überlebenden des KZ Sachsenhausen, detaillierte Aussagen:
Harry Naujoks (1901-1983), war von 1936 bis 1942 im Lager inhalftiert und von 1939 bis zu seiner Verlegung ins KZ Flossenbürg „Lagerältester“. In seinen Erinnerungen an diese Zeit (Harry Naujoks: „Mein Leben im KZ Sachsenhausen. 1936 - 1942. Erinnerungen des ehemaligen Lagerältesten“, Berlin: Dietz Verlag 1989), widmet er den Transporten ein eigenes Kapitel (S. 247-250).
Naujoks beschreibt darin, wie im April 1941 eine Ärztekommission das Lager besucht habe und im Krankenbau des Lagers 300 bis 350 Häftlinge untersucht habe. Es wurde den Untersuchten, darunter auch Gesunden, die eine Krankheit simuliert hatten, erzählt, sie würden zu leichteren Arbeiten in die „Kräutergarten“ nach Dachau verlegt. Nach dem Ende der Untersuchung blieb eine Liste mit knapp 300 Personen übrig.
Naujoks schreibt in der Rückschau, wie sich das Schicksal der darauf befindlichen Personen abzuzeichnen begann:
„Ende Mai erschienen Oberscharführer [Willi] Eilers und ein anderer SS-Mann aus der politischen Abteilung in der Häftlingsschreibstube. Sie jagten die am Karteitisch beschäftigten Häftlinge hinaus und fingen an, anhand einer mitgebrachten Namensliste Karteikarten auszusortieren. Als sie damit den Raum verlassen wollten, stellte sich ihnen Lagerschreiber Rudi Grosse in den Weg und verlangte eine Quittung über die entnommenen Karteikarten, da er für den Bestand der Kartei verantwortlich sei. Er erntete aber nur Gelächter der SS-Leute, und sein Anruf beim Rapportführer [Hermann] Campe unbrachte ihm einen schweren Anpfiff ein.“ (S. 248),
Auch den Ablauf des Abtransport beschreibt Naujoks:
„Am 3. Juni 1941 [tatsächlich: 4. Juni 1941 (Anm. d. Verf.)] wurden für den Morgen des nächsten Tages 95 Häftlinge in den Krankenbau beordert. [...] Am nächsten Morgen fährt ein Lastwagen, mit einer Persenning überzogen, vor und bleibt in der Toreinfahrt stehen. Die 95 Häftlinge kommen aus dem Krankenbau und werden auf dem Wagen verstaut. Die Persenning wird festgezurrt. Der SS-Fahrer Fliegerbauer und der SS-Blockführer Meier, mit einer Maschinenpistole bewaffnet, besteigen die Fahrerkabine, und der Wagen fährt ohne Umstände los. Am 5. Juni geht dasselbe noch einmal so vor sich, diesmal sind es 89 Häftlinge.“ (S. 248)
Unter den Häftlingen ist auch Siegbert Martin Fränkel, jüdischer Buchhändler aus Berlin (1883-1941). Naujoks ordnet ihn in seiner Erinnerung fälschlicherweise dem letzten Transport vom 7. Juni 1941 zu, obwohl er laut Liste auch am 5. Juni abtransportiert wurde. Er berichtet von seiner letzten Unterhaltung mit ihm im Krankenbau kurz vor der Abfahrt, wo man den Häftlingen eine Spitze verabreicht und Fränkel sein Schicksal bereits vorausahnte:
„‚Na, was sagst du jetzt?‘ meint er. Ich will ihn trösten und antworte: ‚In dem neuen Lager kann es vielleicht besser sein als hier.‘ Er erwidert: ‚Ich werde bald mehr wissen als du, wenn ich hinter den schwarzen Vorhang getreten bin.‘ Ich wende ein: ‚Du mußt nicht gleich so schwarz sehen!‘ Er deutet mit dem Kopf zu Tisch des Arztes [Dr. Joseph Hattler (1912-1944 (gef.))]. Als ich nicht begreife, was er mir klarmachen will, sagt er: ‚Achte doch mal drauf. Die Einstichstelle wird nicht mit Alkohol abgerieben. Die Flüssigkeitsmenge wird unkontrolliert gegeben. Mit derselben Kanüle spritzt er alle Mann. Ohne sie zu erneuern. Es ist ganz klar, man behandelt uns wie Todeskandidaten.‘“ (S. 249)
Die Rückkehr des Lastwagens offenbart auch den im Lager Verbliebenen schließlich das Ergebnis des Transports:
„Der Lastwagen, der die Transporte befördert hat, bringt die Hinterlassenschaft der Häftlinge noch am 7. Juni zurück [...]: Prothesen, Bruchbänder, Stöcke, Zahnprothesen, Brillen, Hörgeräte. Wer das gesehen hatte, wußte Bescheid.“ (S. 250)
Emil Büge (1890-1950 (Suizid)), dem es
während seiner von 1939 bis 1943 dauernden Haft im KZ Sachsenhausen
gelang, auf 1470 Notizzetteln heimlich zeitnah seine Beobachtungen
der NS-Verbrechen zu notieren und auch Unterlagen der Lagerverwaltung
zu kopieren, beschreibt in seinem im Sommer 1945 zusammengestellten
und der Amerikanischen Verwaltung übergebenen Bericht die
Durchführung des „Kommando S“ folgendermaßen:
„Im Lager wird mit der
Zusammenstellung eines Kommando ‚S‘ begonnen. Zunächst
weiß niemand, was ‚S‘ zu bedeuten hat, doch da auch
niemand der SS eine humanitäre Geste zutraut, sind sich die meisten
Häftlinge bald darüber einig, dass es sich nur um eine neu
ersonnene Gemeinheit handeln kann, und diese Annahme wird dann auch
durch die Ereignisse bestätigt. Für das Kommando ‚S‘
werden solche Häftling ausgesucht, die kaum noch zur Arbeit gehen,
ja, arbeitsunfähig sind, also ‚Muselmänner‘ -
Körperschwache, aber auch ‚asoziale Elemente‘ wie
Handwerksburschen, Trinker, Zuhälter etc. sowie Amputierte usw.,
eben Leute, denen man jedes Recht zum Weiterleben abspricht. Der
größte Teil sind Kranke aus dem Revier, und den Rest holt man sich
aus den Blocks. Anfang Juni 1941 geht der erste Transport ab nach
Sonnenstein im Regierungsbezirk Erfurt. Ein SS-Beamter, der als
Begleiter mitfährt, sagt nachher zu einem anderen, dass er bis
Pirna/Sachsen gefahren sei. Im Juni 1941 gehen mit Kommando ‚S‘
269 und 34, zusammen also 303 Häftlinge ab, von denen nach einigen
Tagen die ‚Requisiten‘, welche sie im Jenseits nicht mehr
gebrauchen können, wie künstliche Glieder, Gebisse, Glasaugen,
Brustbeutel, Geldbeutel etc. wieder bei der Lager-Effektenkammer
eintreffen. Ja - und welche Todesart hat man ihnen zugedacht? Den
Gastod oder die Spritze, genau kann ich dies nicht angeben, neige
aber erstgenannten Annahme zu, weil sich das Gerücht verbreitet,
dass jetzt in Deutschland überall solche Gaskammern an bestimmten
Plätzen eingerichtet würden, um durch sie das ganze Reich von jedem
‚Ausschuss" frei zu machen. Auch das KZ
Sachsenhausen-Oranienburg soll schon bald damit versehen werden.“
(Emil Büge: „1470 KZ-Geheimnisse. Heimliche Aufzeichnungen aus der Politischen Abteilung des KZ Sachsenhausen Dezember 1939 bis April 1943.“, Berlin: Metropol 2010, S. 212.)
Der Büge-Bericht
schildert dieselbe Unklarheit über die Todesart der Ermordeten, wie
Naujoks Erinnerungen. Daß die den Häftlingen vor der Abfahrt
unkontrolliert gespritzte Flüssigkeit zumindest den Zweck hatte, die
Gefangenen für den mehrere Stunden dauernden und nur mit 2 Personen
(Fahrer und Bewacher) besetzten Transport gänzlich fluchtunfähig zu
machen, liegt nahe. Offenbar handelte es sich bei der unbekannten
Substanz um ein stark lähmendes Mittel, das in der verabreichten
Menge aber auch tödliche Wirkung hatte.
So jedenfalls klingt es im
dritten Bericht, des überlebenden Rudolf Wunderlich (1912-1988), der noch
während des Krieges kurz nach seiner Flucht aus dem Lager im
Untergrund entstand (vgl. Rudolf Wunderlich; Joachim S. Hohmann: „Konzentrationslager Sachsenhausen
bei Oranienburg 1939 bis 1944. Die Aufzeichnungen des KZ-Häftlings
Rudolf Wunderlich.“, Frankfurt am Main: Lang Verlag 1997).
Daß viele der
geschwächten Gefangenen schon während des Transport gestorben
waren, dürfte wahrscheinlich sein. Der Rest dürfte in die Gaskammer
gekommen sein. Die nationalsozialistische Bürokratie bemühte sich
durch exakte Planung auch der Verschleierungsmaßnahmen ihre Morde
geheimzuhalten. Ob es möglich ist, daß ein Teil der Leichen nicht
im Sonnensteiner Krematorium, sondern in den Einrichtungen des
Friedhofs Güterfelde verbrannt wurde, so wie es
Bestattungsunterlagen für einige der im Juni 1941 getöteten aus dem
Mai 1942 nahelegen, oder ob auch dies nur eine bürokratische
Verschleierung war und ihre Asche im Massengrab am Sonnenstein ruht,
ist noch nicht geklärt.